Andreas Stieglitz
Löwen

Am stärksten kommen Schöpfungskraft und Originalität Guglielmos in den vier Löwen zum Ausdruck – vielleicht, weil er hier am unabhängigsten war von den Vorgaben der klassischen Ikonographie. Zu allen Zeiten und in allen Kulturen war der Löwe dank seiner Kraft und Tapferkeit der symbolische Ausdruck von Macht. In der christlichen Ikonographie kommen weitere Bedeutungen hinzu; in der Bibel finden sich zahlreiche Bezüge auf den Löwen. Beispielsweise wird im Alten Testament der Stamm Juda mit einem jungen Löwen verglichen (1 Mo 49,9). Im Christentum wurde der Löwe zum Symbol Jesu und dessen Auferstehung. Das wilde Raubtier symbolisiert mithin neues Leben und Stärke, aber zugleich auch Drohung und Wildheit – Eigenschaften, um die Ungeheuer des Unglaubens und der Ketzerei, also das Böse schlechthin, zu besiegen. Ganz folgerichtig zwingt jeder von Guglielmos Löwen eine andere Beute mit den Pranken nieder: einen schlangenartigen Drachen (wie der im Volksglauben der Alpenländer verwurzelte Tatzelwurm), einen Bären (vielleicht ist es auch ein Wolf), einen Stier und schließlich einen Reiter mit Pferd; die menschliche Gestalt hat leider im Laufe der Zeit ihren Kopf eingebüßt.

Chor, Nordseite: an der Ecke Löwe mit Reiter und Pferd, am Choraufgang Löwe mit Stier

Außerordentlich realistisch dargestellt sind Schwanz, Mähne (mit einem Bohrer herausgearbeitet, dessen Gebrauch zu Guglielmos Zeit ziemlich selten war) und Tatzen der Löwen, ebenso der Reiter. Guglielmo zeigt hier große Kunstfertigkeit und eine ungewöhnliche Sensibilität für einen Künstler des 12. Jahrhunderts. Mit Sicherheit ließ er sich durch die römische Antike (etwa in der Provence) inspirieren, doch muss er zugleich Anregungen durch östliche Vorbilder erhalten haben. Jede nähere Bestimmung bleibt hier jedoch Spekulation, da nicht bekannt ist, woher Guglielmo stammt. (Eine falsch interpretierte Urkunde hat lange dazu geführt, ihn in Verbindung mit einem gewissen Guglielmo da Innsbruck in Verbindung zu bringen, doch jener „Wilhelm von Innsbruck“ hat erst im 13. Jh. gelebt.) Zweifellos konnte Guglielmo jedoch, wie bereits erwähnt, die antiken Sarkophage auf dem Camposanto von Pisa studieren, die hier in großer Zahl standen, und somit an klassisch-frühchristliche Vorbilder anknüpfen. So ähnelt die Darstellung eines Löwen mit Beutetier auf einem römischen Sarkophag geradezu erstaunlich seinen Löwen. Überdies gab es auch im Umkreis von Pisa zahlreiche antike Fragmente.

Chor, Südseite: an der Ecke Löwe mit Drachen, am Choraufgang Löwe mit Bär

Das kulturelle Umfeld in Pisa bot somit reiche Anregungen für eine Künstlerpersönlichkeit vom Range Guglielmos. Überdies war Pisa eine Handelsstadt, in der es zahlreiche Importwaren aus dem Orient gab; die Handelskontakte reichten von Arabien bis nach China. Die Vorliebe für das Fremde und Exotische, insbesondere den islamischen Raum, ist für jene Zeit vielfach bezeugt, sowohl in der Architektur des Doms von Pisa wie auch anderer romanischer Kirchen. In diesem Zusammenhang seien nur die als Schmuckelement an die Fassaden angebrachten farbigen Majolikaschüsseln erwähnt, die aus dem islamischen Raum importiert wurden. Auch ist bekannt, dass sich ein großartiger Greif, das Werk eines islamischen Künstlers aus dem 11. Jh., einst am Kopf des Mittelschiffs im Dom erhob. (Das Original steht heute auf dem Camposanto.) Überdies wimmelte Pisa damals, wie der toskanische Chronist Donizone vermerkt, vor „Heiden und Türken“.

Links: Löwe, einen Stier niederzwingend. Der Stier erscheint eher friedvoll und erinnert an eine Kuh. Allerdings drohen seine Hörner die Halsschlagader des Löwen aufzureißen.

Unten: Löwe, der einen schlangenartigen Drachen (wie den im Volksglauben der Alpenländer verwurzelten Tatzelwurm) besiegt. Unglaublich ausdrucksstark sind Gesicht und Mähne; man meint förmlich sein donnerndes Löwengebrüll zu hören.